Algorithmischer Strukturwandel der Öffentlichkeit
Chancen und Risiken der Informations- und Kommunikationstechnologien für die Entwicklung der politischen Informationskompetenz
Motivation
Medien, genauer die klassischen Massenmedien wie Zeitungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehen, sind für die öffentliche Meinungsbildung in einer Demokratie unverzichtbar. Lange Zeit prägten diese die Vermittlung von gesellschaftlich relevanten Informationen an die Bürger – Journalisten wählten Themen und Neuigkeiten nach professionellen Kriterien aus und übernahmen dadurch eine wichtige Selektionsfunktion. Mit der Verbreitung des Internets änderte sich jedoch dieser Informationsfluss: Auf unserer Suche nach nützlichen Informationen und auch beim Stöbern nach Informationen im Netz werden wir heute von Computerprogrammen unterstützt, die über komplexe Berechnungsschemen, so genannte Algorithmen, Suchergebnisse oder Empfehlungen auf Basis unserer individuellen Präferenzen und Gewohnheiten ausgeben. Besonders deutlich wird dieser Mechanismus im Social Web. In sozialen Netzwerken wie Facebook bestimmen nicht nur unsere Freunde und unsere aktiven Abonnements was wir sehen, sondern auch ein in seiner genauen Ausgestaltung unbekannter Newsfeed-Algorithmus. Allen Programmen ist dabei eines gemein: Sie möchten das Nutzererleben durch das Bereitstellen von persönlich relevanten und aktuellen Informationen optimieren.
Natürlich ist dies in der Regel zunächst positiv für den einzelnen Nutzer: So wird uns nicht nur bei der Auswahl der Beiträge geholfen, die für uns von Interesse sind, sondern diese stehen uns auch schneller und in einem größeren Ausmaß zur Verfügung. Allerdings haben algorithmische Medien ebenso Nachteile, die sich zum Teil erst dann offenbaren, wenn man den Blick vom einzelnen Nutzer entfernt: Da Beiträge begünstigt werden, die den persönlichen Einstellungen des Suchenden entsprechen, stößt dieser seltener auf Inhalte, die eine andere Perspektive vertreten. Wir bewegen uns in sozialen Netzwerken also in vorbestimmten Kreisen, die eine Gruppenbildung von gleichartigen Individuen bevorzugt. Soziale Medien wirken in diesem Fall als so genannte Echo-Kammer, in denen gleichförmige Meinungen widergegeben werden und diese weiter polarisieren. In langfristiger Perspektive sehen einige Wissenschaftler gar einen drohenden Zerfall der Öffentlichkeit, der durch die Polarisierung bedingte Radikalisierungstendenzen weiter verstärkt.
Projektziel
Das übergeordnete inhaltliche Ziel dieses Projektes ist es zu untersuchen, wie sich die Verbreitung der im sozialen Netz weit verbreiteten algorithmischer Selektionsmechanismen auf die politische Informationskompetenz der Mediennutzer auswirkt. Politische Informationskompetenz bezieht sich gemäß des ELABOR-Modells auf das Erkennen von Informationsbedürfnissen, das Lokalisieren und Auswählen geeigneter Informationen sowie deren Bewertung und Weiterverwendung. Darüber hinaus müssen Mediennutzer im Sinne einer allgemeinen Medienkompetenz sowohl über konkretes Wissen zum Mediensystem als auch über eine Reflexionsfähigkeit des eigenen Medienhandelns, der Medien und deren Inhalte verfügen.
Zur Messung der „politischen Informationskompetenz“ wird das Konstrukt in verschiedene Dimensionen eingeteilt. Diese sind zudem die Basis zur Ableitung der sechs zentralen Forschungsfragen des Projekts:
- Werden politische Informationsbedarfe leichter oder schwerer erkannt?
- Lassen sich politische Informationen einfacher oder schwerer lokalisieren und auswählen?
- Wie verändern sich die Kriterien zur Beurteilung der Informationsqualität?
- Wie verändert sich die Speicherung und Organisation von politischen Informationen?
- Wie verändert sich die Nutzung von Informationen zur politischen Meinungsbildung?
- Wie verändern sich Art und Inhalt der Verbreitung von politischen Informationen?
Projektumsetzung
Um die Forschungsziele angemessen bearbeiten zu können, ist ein zweistufiges methodisches Vorgehen notwendig:
1. Repräsentative Telefonbefragung:
Wer nutzt algorithmisch geprägte Medien Weise zur politischen Information?
Zunächst ist eine repräsentative Telefonbefragung der deutschen Bevölkerung ab 14 Jahren vorgesehen. Dabei sollen nicht nur das Ausmaß, die Arten und die Beurteilung der Nutzung algorithmischer Medien erhoben werden, sondern auch die Informationskompetenz der Befragungsteilnehmer. Schließlich wird auf Basis dieser Daten eine Nutzertypologie erstellt, auf deren Grundlage die Ergebnisse der zweiten Erhebung eingeordnet und interpretiert werden können.
2. Computergestützte Erhebung:
Wie gehen die Nutzer algorithmisch geprägter Medien konkret vor? Welche Kompetenzen zeigen sie, welche fehlen für eine angemessene Nutzung?
Ein für dieses Projekt von Informatikern der Hochschule Karlsruhe entwickeltes Erhebungsinstrument soll in einem zweiten Schritt die tatsächliche Nutzung von politischen Informationsquellen über einen mehrwöchigen Zeitraum auf allen Endgeräten sowie on- und offline aufzeichnen. Dazu wird sowohl das digitale Informationsverhalten der Teilnehmer auf verschiedenen Geräten (PC, Tablet, Smartphone) computergestützt beobachtet (Tracking), als auch der analoge Informationskonsum (z.B. Zeitung, Radio, Fernsehen) ermittelt, indem diese Mediennutzung in einem Tagebuch festgehalten wird. Dabei können nicht nur die bewusste und gezielte Informationssuche erfasst werden, sondern auch unbewusste und zufällige Informationskontakte und –wege aufgedeckt werden. Eine zusätzliche Onlinebefragung der Probanden ermöglicht zudem den Einbezug von Gründen und Motiven der gezeigten Verhaltensmuster.
Projektnutzen
Die Ergebnisse dieses Projektes liefern neben wissenschaftlichen Erkenntnissen auch praktische:
So sollen am Ende Handlungsempfehlungen für medienpolitische Akteure aus (1.) Staatskanzleien, (2.) Landesmedienanstalten, (3.) Rundfunkräten, (4.) politischen Parteien, (5.) Schulbehörden und (6.) der Bundeszentrale und Landeszentrale für Politische Bildung gegeben werden. Zudem sollen den Anbietern von (7.) Suchmaschinen, (8.) Sozialen Netzwerken und (9.) digitalen Medien Verbesserungen für deren Algorithmen vorgeschlagen werden.
Wissenschaftlich sollen die Projektergebnisse auf Konferenzen und in Fachzeitschriften national und international publiziert werden. Zusätzlich sollen die Befunde für weitere wissenschaftliche Arbeiten anregen und das entwickelte computergestützte Erhebungsinstrument wird als Open Source Software bereitgestellt. Außerdem werden aktuelle Ergebnisse projektbegleitend auf dieser Website vorgestellt, die auch nach Projektende in Form eines Blogs bestehen bleiben und für neuere Befunde offen sein soll.